Erstellt am Dezember 2025
Sie.
Sie steht irgendwie immer ein wenig am Rande des Lebens. Selbst wenn sie am gemeinsamen Tisch sitzt, selbst wenn sie mit allen lacht, innerlich hat sie dieses Gefühl: „Ich bin hier überflüssig. Ich gehöre hier nicht hin.“ Sie versucht immer, angenehm zu sein. Macht mehr, als nötig ist. Übernimmt zusätzliche Aufgaben. Bleibt bis spät abends. Antwortet sofort auf Nachrichten. Stimmt Dingen zu, die ihr schwerfallen, unbequem oder unerträglich sind, einfach, weil sie nicht „Nein“ sagen kann. Und jedes Mal, wenn der Chef schreibt: „Wir müssen reden“, zieht sich ihre Brust zusammen. Sie bekommt kaum Luft. Ihr Herz fühlt sich an, als würde es irgendwo runterfallen. Sie weiß noch gar nicht, worum es geht, aber ihr Körper ist sich schon sicher: Es ist etwas Schlechtes. Es geht um sie. Es wird weh tun. Sie lebt ständig mit dem Gedanken, nicht gut genug zu sein. Dass alle um sie herum irgendein Geheimnis des Lebens kennen, und sie nicht. Dass alle wissen, wie man Beziehungen aufbaut, erfolgreich ist, sich durchsetzt und sie nur so tut, als wüsste sie es auch. Sie vergleicht sich mit anderen und verliert. Immer. Sie entschuldigt sich sogar, wenn sie keine Schuld trägt. Sie bedankt sich für die kleinste Aufmerksamkeit, als wäre sie ein Schatz. Und dann isst sie. Wenn ihr ängstlich ist. Wenn Leere da ist. Wenn zu viele Gefühle in ihr sind. Oder im Gegenteil, wenn sie gar nichts fühlt. Essen wird für ein paar Minuten zu Wärme. Zu Trost. Zu Ruhe. Danach kommt die Scham. Und ein neues Versprechen an sich selbst: „Morgen fange ich mit Abnehmen an. Ab Montag. Diesmal wirklich.“ Aber morgen kommt die Angst wieder. Und sie muss wieder irgendwie überleben. So ist sie nicht einfach entstanden. Als sie ein Kind war, war Liebe nicht etwas Vertrautes oder Warmes. Sie musste sie sich verdienen. Gut sein, angenehm sein, gehorsam sein. Nicht stören. Nicht wütend machen. Nicht enttäuschen. Manchmal wurde sie gelobt, aber nur, wenn sie passte. Manchmal wurde sie einfach nicht beachtet. Oder mit anderen verglichen: „Schau, wie sie es können“, „Warum bist du nicht so?“, „Du machst schon wieder alles falsch.“ Wenn sie Schmerzen oder Angst hatte, hörte sie: „Stell dich nicht so an“, „Hör auf zu weinen“, „Ist doch nicht schlimm“. Und sie lernte, nicht zu fühlen. Versteckte ihre Traurigkeit, ihre Angst, ihren Zorn so tief, dass sie sie irgendwann selbst nicht mehr spürte. Am schlimmsten war nicht, wenn man sie anschrie. Am schlimmsten war die Stille. Die Kälte. Wenn niemand hinsah, nicht kam, nicht sprach. Dann fühlte sie: Wenn mich niemand liebt, verschwinde ich. Und sie entschied: „Dann werde ich so sein, dass man mich liebt. Um jeden Preis.“ Dieses kleine Kind ist erwachsen geworden, aber die Entscheidung blieb in ihr. Jetzt ist sie erwachsen, aber immer noch dieses Kind, das Angst hat, überflüssig zu sein, das Aufmerksamkeit verdienen will, das aushält, selbst wenn es ausgenutzt wird, und das dort bleibt, wo es ihr wehtut, weil in ihr die Stimme sagt: „Lieber so als allein.“ Sie ist nicht kaputt. Sie ist verletzt. Sie hat einfach damals nicht das Wichtigste bekommen, das sichere Gefühl: „Alles ist in Ordnung. Du darfst geliebt werden, einfach so.“ Und deshalb versucht sie ihr Leben lang zu beweisen, dass sie Liebe verdient. Dabei… müsste sie gar nichts beweisen. Mit ihr ist schon alles in Ordnung.